Jón Kalman Stefánsson: Verschiedenes über Riesenkiefern und die Zeit

Von der Verlässlichkeit isländischer Großväter und Riesenkiefern

Ein zehnjähriger Junge auf dem Weg vom Neubauviertel in der isländischen Hauptstadt Rejkjavik zur norwegischen Großmutter in die gepflegte Vorortsiedlung der Stadt Stavanger, Zentrum der Öl verarbeitenden Industrie, mit seinen einhunderttausend Einwohnern. Die Reise ist so aufregend, wie eine Flugreise für einen Zehnjährigen eben ist, und dann steht endlich der Großvater in der Menge und sein Lächeln „schwebt wie der Himmel über allem“, und die Großmutter verbreitet den „süßlich schweren Duft von Kaffee, Tabak und Leben“.

Der Held des Romans war der Held seines Viertels in seiner isländischen Heimat, er war der, „der bald ins Ausland geht“, zu einer Zeit, in der „höchstens Stewardessen und Politiker ins Ausland reisten und vielleicht noch Seeleute“. Zum Glück fehlte ihm nur noch die Liebeserklärung der angebeteten Gunnhildur, aber die ist dem sommersprossigen Rothaarigen nicht vergönnt.

Die Zeit verschlingt alles

Ein gefälliges Kinderbuch, dieser Eindruck drängt sich auf beim Einstieg in Jon Kalman Stefanssons Roman, ein nettes Geschichtchen über das Aufwachsen in der einsamen Fjordlandschaft, Kinderromantik. Kurze, prägnante Sätze, kurze Kapitel, die Eindrücke des zehnjährigen Ich-Erzählers wechseln ab mit den „Abschweifungen“ des inzwischen fast vierzigjährigen Erzählers, mit Fakten „von der Stadt Stavanger“ und historischen Exkursen über das Leben der Großeltern und Eltern in jungen Jahren, über die Entwicklungen in der Patchworkfamilie. Ganz allmählich wächst sich die vermeintliche Kindergeschichte aus.

Mitnichten ein Kinderbuch, vielmehr ein Philosophieren über das Leben, den Tod, die Zeit und die Vergänglichkeit. All dies in einem durchaus neuen und frischen Ton, in unerwarteten Bildern und Metaphern, die selbstverständlich und nicht gekünstelt daherkommen und in lapidaren Sätzen zum Nachsinnen anregen. Banale Weisheiten wirken bei Jon Kalman Stefansson nicht banal: „Erwachsene sind gestorbene Kinder“ etwa oder „die Zeit verschlingt möglicherweise alles, alles Leben, Könige und Bettelleute“.

Natürlich ist der Roman trotzdem die Geschichte des Erwachsenwerdens, ein Entwicklungsroman im weitesten Sinne, auch ohne chronologisch stringente Handlung. Reifer wird er, der namenlose Erzähler, im Laufe seines norwegischen Feriensommers. Er begegnet den Brüdern Björn und Erik, gemeinsam schwören sie, immer Jungs zu bleiben und niemals erwachsen zu werden – und gehen doch wenig später zu den Halbstarken an der Bushaltestelle, um sich etwas über Brüste von Mädchen erzählen zu lassen.

Helge, Arne, Tarzan und Flinker Hirsch

Er begegnet dem altklugen Helge, der alles weiß über den Urknall, Asteroidengürtel, chemische Reaktionen und jede Schlacht der Weltgeschichte, der aber nichts weiß und auch nichts anzufangen weiß mit den Geschichten aus der Heimat der Stiefmutter des Erzählers hoch oben in der Einöde Islands, wo das Glasauge des einäugigen Großvaters darüber wacht, wie der Stiefenkel die Seehasennetze flickt, dem Musik fremd ist und der Trolle als Märchengestalten abtut.

Er begegnet dem coolen Arne, dessen Freund alle sein wollen, weil er lange Haare hat und einfach alles kann. Der ihn „Isländer“ nennt und ihm zwanzig Jahre später Ansichtskarten von seinen Abenteuern in der weiten Welt schicken wird, die natürlich ankommen, weil Karten von Arne auch ohne korrekte Anschrift eben einfach ankommen.

Und er begegnet der Spinne, die erst in seinem Schrank und dann unter seinem Bett lauert, um ihn den Nachts zu jagen, zu umschlingen und zu vernichten zu versuchen, würden ihm nicht seine treuen Freunde Tarzan und Flinker Hirsch aus dem Rejkjaviker Neubaublock zu Hilfe kommen und in blutigen, heldenhaften nächtlichen Kämpfen sein Leben retten.

Stark wie riesige Kiefern

Vor allem aber sind da sein Großvater, der ordentliche Malermeister und Ehemann, den man sich gut mit mit Baströckchen bekleideten Schönheiten in Südseehäfen sitzend vorstellen kann, der statt dessen regelmäßig sein Auto staubsaugt und der im Schuppen sitzt und Gunnar Gunnarssons gesammelte Werke zur isländischen Geschichte liest und sie für den Enkel nacherzählt, und die Großmutter, die scheinbar harte, „stählerne“ Frau, die die Familie zusammenhält, sich Sorgen um die Enkel macht und deren Sorgen ernst nimmt. „Oma und Opa. Zwei Worte, die einen aufrichten können wie eine Religion, wie eine riesige Kiefer.“

Mittendrin der Ich-Erzähler, mal aus kindlich-naiver Perspektive, mal aus der Perspektive des inzwischen Vierzigjährigen, mal allwissend über den Dingen stehend. Immer aber voller Ideen, voller Phantasie und Neugier auf das Leben, das so vergänglich ist. Auf das Leben, in dem der Großvater einen viel zu frühen Tod stirbt, auf das Leben, in dem man auf einem Beatlesfoto auf dem Plattencover sehen kann, wie Pauls Tante in der Küche heiße Schokolade kocht, während Ringo sich gerade nach einer Zigarette bückt, was seine Mutter aber nicht erfahren soll.

Der 1963 geborene Jón Kalman Stefánsson ist mit seinem jüngsten Roman dem Leitthema seiner bisherigen Prosa treu geblieben. Wie bereits in seiner 1997 bis 1999 erschienenen Trilogie erzählt er wieder vom Gang des Lebens, von den Weichen, die in der Kindheit gestellt werden für das Erwachsenenleben, vom Einfluss, den Erwachsene auf die Entwicklung der Kinder nehmen – all dies aus der Perspektive des Heranwachsenenden. Auch in „Verschiedenes über Riesenkiefern und die Zeit“ ist es Stefánsson wieder gelungen, große Themen unprätentiös zu behandeln.

Ein phantasievolles Buch, das man gerne liest, denn es fängt die Buntheit des Lebens ein, mit seinen fröhlichen und traurigen Momenten, mit dem Halt, den einen Freunde und Familie geben können, und mit den Verletzungen, die einem andere Menschen zufügen können. Vor allem aber ist es eine Ode an die Liebe zwischen Großvater und Enkel und letztendlich eine Geschichte des Triumphs der Liebe über den Tod.

Literaturangaben:

STEFANSSON, JON KALMAN: Verschiedenes über Riesenkiefern und die Zeit. Leipzig 2006, Reclam. Übersetzung aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. 206 Seiten.

Zuerst veröffentlicht im Januar 2007 bei der Berliner Literaturkritik.

 

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