Hans Christian Schrader: Das Berliner U-Bahn-Buch

Momentaufnahmen, Fotos. Berlin unter der Erde, Berlins U-Bahnhöfe, Blicke aus Berliner U-Bahn-Fenstern. Der Ausblick vom Gleisdreieck nachts und bei grellem Sonnenlicht. Rostende Stahlträger der oberirdischen U-Bahn-Gleise zwischen Mendelssohn-Bartholdy-Park und Gleisdreieck und der Blick von der Brücke nach unten auf das Gleisbett. Impressionen von Technik, Architektur und Stadtlandschaften, Spiel mit Licht und Schatten und Bewegung.

Momentaufnahmen, Texte. Berliner in der U-Bahn, Immigranten und Touristen in der U-Bahn, U-Bahn-Personal, Verkäuferinnen auf dem U-Bahnsteig. Distanzierte Beschreibungen und persönliche Kommentare zu wortlosen Szenen im U-Bahn-Wagen, zu Gesprächen auf dem Bahnsteig, zu Ansagetexten. Impressionen von Menschen, Passagieren und U-Bahn-Personal.

Der freie „Creative Director“ Antonius und der Psychologe Hans Martin Schrader haben ein Berlin-Album von U 1 bis U 9 zusammengestellt, mit Schwerpunkt – zufällig, gewollt? – auf die Linien U 1 bis U 3. Entdeckte Antonius hier besonders viele interessante Motive oder fährt er einfach öfter mit diesen Linien? Hintergründe und Motivation für die Bild- und Textauswahl erfährt der Leser nicht.

Die Fotos, alle in Farbe, einige retuschiert und deutlich bearbeitet, sind wirkungsvoll. Menschenleere U-Bahnsteige im Zwielicht wirken – je nach Blickwinkel – majestätisch oder gespenstisch. Wartebänke im Bahnhof Rathaus Schöneberg im ersten Morgenlicht, die grün gekachelte Wandverkleidung im Bahnhof Samariterstraße, die blauen Türen zu den Technikräumen im Bahnhof Alexanderplatz werden zum Bildsujet. Größtenteils unschöne Details werden durch die Fokussierung des Fotografen schön. Zumindest rücken sie plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Das ungünstig gewählte Format lässt die Wirkung der Fotos leider etwas verblassen: Viele der Fotos gehen über den Seitenrand, über den widerspenstigen Falz des Paperbacks hinaus. Zum Betrachten des Bildes muss man die Broschüre mit Gewalt auseinander knicken, was der Einbandleimung nicht bekommt – und den Knick mitten im Foto nicht beseitigt.

Viel Raum – optisch – nehmen die Texte ein. Sie haben keinen direkten Bezug zu den jeweiligen Fotos und scheinen willkürlich zusammengestellt worden zu sein. Passend zum impressionistischen Gesamtcharakter des Bandes: Eindrücke, zufällig wie Begegnungen in der U-Bahn, in der Großstadt. Ein schönes Konzept, die Umsetzung jedoch nicht gelungen. Zu unterschiedlich sind die Stile, zu aufdringlich manches Mal die scheinbare Unaufdringlichkeit des Beitrags.

„Eine afrikanische Familie steigt ein, vier Personen, die Eltern eines etwa achtjährigen Mädchens und eine weitere Frau. Sie sind entspannt und lächeln, auch wenn sie nicht miteinander reden. Die Tochter kuschelt sich an ihre Mutter. Beim Aussteigen aber löst sie sich von der kleinen Gruppe und wählt eine andere Tür.“ Die Absicht hineinzuinterpretieren, dass Texte solcher Art die Zufälligkeit und Belanglosigkeit allen Seins verdeutlichen sollen, erscheint der Rezensentin zu gewagt.

Andere Texte dagegen bewerten, geben eine Meinung wieder: „Was in der Berliner U-Bahn fehlt, vor allem in den neuen Zügen, in denen man vom ersten bis zum letzten Wagen durchgehen kann: eine Toilette und eine Kombination aus Internetcafe und Bistrowagen in der Mitte, mit ein paar Stehtischen, Kaffee, Bier, Bouletten, Döner, Zeitungsverkauf, Lottoannahmestelle. Und die Werbung eines Möbelhauses, dass es die unnachahmliche U-Bahn-Polsterdekoration jetzt endlich auch für zuhause gibt…“

Manchmal schildert der Autor einen ganz persönlichen Eindruck: „ Ich steige am Kottbusser Tor aus. Unten ist es ungemütlich. Ausgleichend wirkt oben auf dem Bahnsteig der U1 ein kleiner Blumenladen mit liebevoll um das Häuschen aufgebauten Angeboten – vor allem an Topfpflanzen.“ Der ganz persönliche Eindruck der Rezensentin ist, dass ihr die Fotos in ihrer Vagheit besser ohne die vagen Begleittexte gefallen hätten.

Mancher Leser / Betrachter wird das anders sehen. Für alle jedenfalls ist dieser Band eine nette Zusammenstellung von U-Bahn-Impressionen, abgerundet mit einer Seite „Zahlen und Fakten“, wo der Interessierte erfahren kann, dass der Wagenbestand der Berliner U-Bahn 1278 Wagen zählt und dass die längste Linie die U7 mit 31,8 km Länge ist. Und dass nur 79 Prozent der gesamten Streckenlänge unterirdisch verläuft.

Literaturangaben:
SCHRADER, HANS CHRISTIAN: Unter der Erde geht das Leben weiter. Das Berliner U-Bahn-Buch. Mit Fotos von Antonius und Texten von Hans Christian Schrader. Eichborn, Berlin 2007. 128 S., 24,90 €.

Zuerst veröffentlicht im Februar 2008 bei der Berliner Literaturkritik.

Mehr dazu im Netz:

– Link zur Rezension bei der Berliner Literaturkritik

 

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